Schwester, angekurtet

Dass die Welt auch ein Dorf ist, erfuhr ich erst let­ztens wieder, als ich eine junge Frau ken­nen lernte, mit einem Kuss zum ver­lieben. Sie hat­te selb­st ein Inten­sivkind. Wom­it uns sofort ein The­ma ver­band und da keine Zeit drängte, ver­fie­len wir in ein Hin und Her vom Sagen, fast. Denn das Wort “Gespräch” trifft es nicht ganz, es war eher ein Monolog von der weib­lichen Seite. Meine Beteili­gung wurde schnell auf das Zuhören beschnit­ten nach den üblichen Floskeln, wie sie Eltern mit behin­dertem Kind pfle­gen, mit, was hat denn dein Kind. Als dann die Diag­nosen unser­er Kinder gek­lärt waren, begann sie sich über das Leben mit den Pflege­di­enst zu entleeren, der rund um die Uhr am Kind klebt. Dabei wurde mir ihr Sagen mit der Zeit doch ein wenig zu viel und ich fragte mich, ob bei ihr noch ein Mann im Hause ist. Da diese Frage keine Antwort fand, wollte ich schon abschal­ten, aber plöt­zlich weck­te eine Episode doch wieder meine Aufmerksamkeit:

Es geschah an einem Tag als es mor­gens zum Arzt gehen sollte, ein Ter­min beim Orthopä­den. Aber da sie auf dem Land leben, bedeutet jed­er Arztbe­such, selb­st der Weg zur Ther­a­pie, eine län­gere Fahrstrecke. Das Auto wurde dafür mor­gens umgerüstet zum Inten­siv­trans­port. Pul­soxi, Beat­mungs­mas­chine, Sauer­stoff, Bug­gy, alles musste mit, alles musste rein. Da der Junge, ich glaub Kevin heißt er, auch an dem Tag keine Lust hat­te sich mit dem The­ma Essen auseinan­der zu set­zen, was in let­zter häu­figer vorgekom­men sei, hat­ten sie ihm in der Frühe eine Magen­sonde gelegt. Anfangs war er nicht begeis­tert. Aber wer ist das schon, wenn man ein Schlauch durch die Nase bis in den Magen geschoben bekommt. Doch als dann die Nahrung in seinem Bauch ankam und der Hunger sich langsam wen­dete zum Satt, stieg seine Stim­mung wieder zum Lächeln und die Klarheit siegte: Die Reise kann losgehen.

Der Bub wurde in den Reh­a­sitz gehoben, fest­geschnallt ohne Bewe­gungs­frei­heit bis auf Kopf, Arme und Beine. Die Beat­mungs­mas­chine stand vor ihm, Absaugung, Sauer­stoff, Pul­soxi daneben und nicht vergessen, die Nahrungspumpe hing am Vorder­sitz. Die Schwest­er set­zte sich neben ihn, nicht direkt, der mit­tlere Sitz zwis­chen ihnen blieb frei. Soviel Nähe, und das bei unter­schiedlichen Schwest­ern, wollte die Mut­ter ihrem Kind doch nicht zumuten. Als dann in der hin­teren Rei­he alles okay war, set­zte sich die Mut­ter hin­ters Lenkrad und startete den Wagen. Eine Stunde Fahrt sollte es wer­den. Doch schon nach ein paar Kilo­me­ter ver­langsamte sich diese. Das Pflaster, was die Magen­sonde an der Nase fes­thielt, löste sich langsam von der Haut. Die Mut­ter schaute in den Rück­spiegel und sah die Schwest­er heftig mit den Armen herum wuchteln, was sie vorne über­haupt nicht ver­stand. Sie ver­suchte die Frau zu beruhi­gen, schließlich, falls den Jun­gen die Sonde raus­rutscht, da gibt es zwar eine kleine Sauerei, doch stirbt nicht gle­ich das Kind daran. Die Schwest­er ent­geg­nete ihr aber, sie hät­ten keinen Ersatz mit. Wie? Die Mut­ter ver­stand nichts. Na, keine weit­ere Nasen­sonde, meinte die Schwest­er mit zit­triger Stimme. Bloß nicht aufre­gen, bloß nicht, meinte die Mut­ter zu sich und erk­lärte der Schwest­er, was zu tun sei, also das Pflaster fest auf die Haut drück­en. Denn anhal­ten, um das Prob­lem fachgerecht zu lösen, also die Sonde mit einem neuen Pflaster zu befes­ti­gen, ging nicht. Die Strecke ist zu kur­ven­re­ich, so dass die Mut­ter Angst hat­te, wenn sie ste­hen bleiben, sitzt ihr gle­ich ein anderes Auto hin­ten drauf. Nach ein­er kurzen Zeit war die Sonde fix­iert, was sich aber nicht so ein­fach gestal­tete. Das lag nicht an der Fin­ger­fer­tigkeit der Schwest­er, son­dern am Sitzgurt, der saß zu fest, wodurch sie kaum an den Jun­gen her­an kam. Sie musste sich umständlich mit dem Oberkör­p­er zu ihm drehen, durch den Gurt durch. Als die Mut­ter dies sah, dachte sie nur, zum Glück muss er nicht abge­saugt wer­den. Nach­dem sich das Auto dann zwis­chen den LKWs auf der Auto­bahn rein geschoben hat­te, bre­it­ete sich wieder Ruhe aus. Die Schwest­ern lehnte sich mit einem Seufz­er zurück und die Mut­ter sah, wie sich der Schweiß unter ihren Achseln ins T‑Shirt fraß. Doch als sie selb­st ihre innere Span­nung lock­ern wollte, sich im Fahrersitz bequem zurecht schob, löste sich das Pflaster erneut. Wieder gestikulierte die Schwest­er wild. Die Mut­ter erk­lärte ihr nochmals, dass sie pro­bieren solle, das Pflaster zu kleben. Die Schwest­er stöh­nte, drehte sich zum Kind und schrie plöt­zlich laut los. Die Mut­ter legte darauf eine Voll­brem­sung auf den Stand­streifen hin, in der Angst, mit Kevin sei was. Es roch noch gebran­nten Gum­mi. Sie drehte sich hin­ter zu den bei­den. Mit dem Jun­gen war alles okay, er lachte, daneben die Schwest­er, sie röchelte. Ihr Oberkör­p­er war in sich ver­dreht. Den Kopf, das Gesicht hat­te sie halb in die Rück­lehne gedrückt. ihr Sitzgurt hat­te sich zu einem Strick gerollt und wan­derte ein­mal um den Hals. Die Schwest­er röchelte auch weit­er mit hochroten Kopf, als die Mut­ter den Gurt, die Enge, vor­sichtig am Hals lock­erte und abnahm. Vor­sichtig, schließlich, eine Leiche, das hätte noch gefehlt, dachte sie. Nach der Befreiung jam­merte die Schwest­er, plöt­zlich hätte es Knack gemacht, im Rück­en gestochen und seit dem könne sie sich nicht mehr bewe­gen. Die Mut­ter ver­stand über­haupt nichts. Sie fahren zwar zum Orthopä­den, aber mit welchem der bei­den, das war hier jet­zt die Frage. Die Weit­er­fahrt mit der Schwest­er, die war vor­bei und den Ter­min beim Arzt für Kevin kann sie vergessen. Einen Ret­tungswa­gen bräuchte sie, meinte die Schwest­er und blieb in ihrer ver­dreht­en Posi­tion sitzen. Der Mut­ter schaute rat­los auf sie und forderte die Ret­tung an, die wenig später ein­traf mit der Polizei. Die Schwest­er, welche beim umlagern auf die Liege noch mal auf­schrie, nah­men sie mit. Und wie käme sie jet­zt nach Hause?, fragte sie die bei­den Polizis­ten. Doch diese ver­standen erst nichts. Sie machte dann denen klar, wie schnell man bei Kevin ein­greifen muss, wenn die Beat­mung rumz­ickt oder wenn er hus­tet. Sie kann ihn nicht alleine nach hause fahren. Die bei­den Beamten schaut­en sich an, blick­ten auf die Uhr und sicherten der Mut­ter für die Heim­fahrt einen Chauf­feur in Polizeiu­ni­form, damit sie sich um Kevin küm­mern kann.

Und das Ende, meinte sie, war ein neuer Satz Reifen für eine gelöste Block­ierung bei der Schwest­er, denn mehr war es nicht. Sie hätte sich so gut gedreht, meinte der Chirurg, dass es mal richtig gekracht hätte zwis­chen den Wirbeln. Das kann schon mal zwick­en. Aber wie sie sich den Gurt dabei ein­mal um den Hals gewick­elt bekam, blieb allen ein Rät­sel. Und die Sonde, fragte ich sie. Sie hielt bis zum Abend.

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