Das unerzählte Leid, Unbehagen in der Pflege

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Ich ver­ab­scheue, ich has­se die Pfle­ge. Und das mei­ne ich ernst. Es geht mir nicht um ein flüch­ti­ges Unbe­ha­gen oder ein bana­les Miss­fal­len. Wenn ich von Pfle­ge spre­che, den­ke ich an die Lang­zeit- und Kran­ken­pfle­ge – an all die Her­aus­for­de­run­gen, die mit der Betreu­ung von Kran­ken und beein­träch­tig­ten Men­schen einhergehen.

Du magst ein­wen­den, dass Hass eine hef­ti­ge Emo­ti­on ist, die Leser:innen, Pfle­ge­kräf­te sowie Betreuer:innen abschre­cken könn­te – jene, die mei­ner schwer erkrank­ten Toch­ter zur Sei­te ste­hen wür­den.
Ent­schul­di­ge, wenn ich dir zu nahe tre­te, sodass dein Atem schwer und schnell wird. Du, als enga­gier­te Ein­zel­per­son in der Pfle­ge­ar­beit, gibst dein Bes­tes, um den Men­schen, die dir anver­traut sind, zu hel­fen.
Es ist so: Ich kann nicht all­ge­mein über dich oder die unzäh­li­gen Pfle­gen­den in unse­rem Land spre­chen.
Ich spre­che über mich, mei­ne Emo­tio­nen, mei­ne Trig­ger, wenn ich mal wie­der einen Arti­kel über den Pfle­ge­not­stand lese. Und damit sind wir gleich beim Thema:

1. Der Pflegenotstand – Quelle meines Zorns

Ich has­se den Pfle­ge­not­stand, denn er löst in mir ein star­kes Beben aus. Sobald das Wort fällt, schlägt mein Puls in drei­stel­li­ge Höhen.
Vie­le den­ken beim Pfle­ge­not­stand an den Per­so­nal­man­gel, sei es in Kran­ken­häu­sern oder im ambu­lan­ten Dienst. Doch das ist nur ein Teil der Not­stands­wüs­te.
Die ande­re Wüs­te hin­ter dem Per­so­nal­ho­ri­zont ist die Igno­ranz, mit der die­sem Pro­blem begeg­net wird, und die Tat­sa­che, dass sich alles rund um Pfle­ge­not­stand auf die Schul­tern der Pfle­gen­den, der Ange­hö­ri­gen und der Pfle­ge­be­dürf­ti­gen selbst türmt – Feh­ler inklu­si­ve.
Igno­ranz? Ja, es man­gelt an sicht­ba­ren Initia­ti­ven, Men­schen über 35 Jah­re in der Pfle­ge aus­zu­bil­den, mit Lohn­aus­gleich für das bis­he­ri­ge Berufs­le­ben. Es fehlt an prak­ti­schen Model­len, wie unge­lern­te oder fach­frem­de Kräf­te tie­fer in die Pfle­ge­ar­beit inte­griert wer­den kön­nen.
Man­che guten Ideen gegen den Not­stand wer­den erstickt, weil befürch­tet wird, die Qua­li­tät der pro­fes­sio­nel­len Pfle­ge könn­te dar­un­ter lei­den.
Aber sinkt die Qua­li­tät nicht bereits durch den Not­stand selbst? Vie­le Ansät­ze ver­puf­fen, weil der poli­ti­sche Betrieb die­ses The­ma immer wie­der ignoriert.

2. Emotionale Belastung – unerträglich schwer

Als pfle­gen­der Vater erle­be ich seit zwan­zig Jah­ren täg­lich die schwe­ren Sym­pto­me der Erkran­kung unse­rer Toch­ter, mei­ner Kämp­fe­rin. An jedem Tag blit­zen epi­lep­ti­sche Anfäl­le auf, fast täg­lich klei­det sie sich mit Schmerz­kri­sen und Leid.
Es ist eine erdrü­cken­de Last, die ich kaum sofort wahr­neh­me, denn ich habe Stra­te­gien ent­wi­ckelt, um mit die­sen schwie­ri­gen Gefüh­len rund ums Leid umzu­ge­hen.
Nur so kann ich die­se täg­li­che Last tra­gen und objek­tiv ent­schei­den, wel­che The­ra­pie nötig ist. Braucht sie ein Schmerz­mit­tel? Wenn ja, Tra­ma­dol oder Ibuprofen?

3. Stress – zermürbend und allgegenwärtig

Pfle­ge­fach­kräf­te ken­nen ihren Stress genau, sei es im Pfle­ge­heim oder im ambu­lan­ten Dienst. Zu vie­le Auf­ga­ben pro Schicht, zu vie­le gleich­zei­tig zu betreu­en­de Men­schen.
Und wenn dann noch ein Not­fall dazu­kommt, steht die Fra­ge im Raum: Wie soll ich das alles schaf­fen?
Wir pfle­gen­den Ange­hö­ri­gen ken­nen selbst den Stress in der Pfle­ge­ar­beit. Er wächst mit der Über­for­de­rung, sei es, wenn die Groß­mutter mit Demenz aus ihrer ange­neh­men Rol­le fällt oder wenn die Schmer­zen unse­rer Toch­ter trotz Opio­ide uner­träg­lich blei­ben.
Dazu kom­men noch Stress­fak­to­ren wie Kran­ken­kas­sen, Behör­den, Pfle­ge­diens­te und Sani­täts­häu­ser. Die häus­li­che Pfle­ge schwer erkrank­ter Men­schen erfor­dert ein gro­ßes Netz­werk zur Orga­ni­sa­ti­on von Pfle­ge und The­ra­pie.
Doch die ver­schie­de­nen Trä­ger und Anbie­ter schei­nen oft nicht zusam­men­zu­ar­bei­ten, jeder bestimmt sei­ne eige­nen Regeln. Da ver­lie­re ich schnell den Über­blick, wenn ich nicht alles doku­men­tie­re, was wie wo gera­de bean­tragt oder im Wider­spruch ist.
Und wer denkt, es rei­che, ein­fach mal zum Amt zu gehen und die geschlos­se­ne Faust auf den Tisch zu hau­en, der lernt schnell: Dies geht viel­leicht ein­mal.
Nach sechs Jah­ren oder frü­her wird jeder Brief von denen zum Stres­sor: Was wol­len die schon wie­der? Wie­der eine Ableh­nung? Wie­der eine Kos­ten­be­tei­li­gung trotz Befrei­ung?
Du fühlst dich erdrückt und gleich­zei­tig im Kampf­mo­dus. Ein­fach gestresst. Ich has­se es.

4. Emotionale Distanz – keine einfache Lösung

Zurück zur emo­tio­na­len Belas­tung: Wenn du sehr empa­thisch bist, kann jeder Schmerz dei­nes Kin­des dich zutiefst tref­fen.
Die Schmerz­kri­sen kom­men mehr­fach die Woche und sind nur schwer zu bre­chen. Sie hal­ten meh­re­re Stun­den an, manch­mal eine gan­ze Nacht bis zur Erschöp­fung.
Star­ke Unru­he­pha­sen oder schwe­re epi­lep­ti­sche Anfäl­le, nach denen dein Kind weint. Dein Herz, dein Bauch, sie wei­nen mit.
Das zehrt an den eige­nen Kräf­ten, und viel­leicht suchst du nach Wegen, wie du dei­ne Gefüh­le bes­ser „kon­trol­lie­ren“ kannst. Dies wird zu einem schwie­ri­gen Spiel und kann letzt­lich zu einer post­trau­ma­ti­schen Reak­ti­on oder Depres­si­on füh­ren, die dei­ne Gefühls­welt ver­dun­kelt.
So kann es sich ent­wi­ckelt, doch bin ich resi­li­ent, denkst du, und du möch­test jeder­zeit dei­nen Lie­ben nahe sein, an ihrem Leben teil­ha­ben, soweit es geht.
Beden­ke: Resi­li­enz ist wie eine Schwimm­wes­te. Wird die Last zu schwer, zu häu­fig knallt ein Trau­ma rein, geht die­se Wes­te mit dir unter.

Vater erschöpft im Rollstuhl am Tisch
Vater schöpft im Roll­stuhl am Tisch — KI Bild

5.Schwierige Arbeitszeiten – ein Mythos in der Pflege

Wenn du in der Kran­ken- oder Alten­pfle­ge tätig bist, kennst du das: Kei­ne Gleit­zeit, ein Dienst von 9 bis 17 Uhr gibt es nur in Aus­nah­me­fäl­len, wenn über­haupt.
Pfle­gen­de Ange­hö­ri­ge, ins­be­son­de­re in der außer­kli­ni­schen Inten­siv­pfle­ge, wis­sen ohne­hin: Ein Arbeits­zeit­ge­setz gibt es in die­sem „Ehren­amt“ nicht. Ein Dienst kann ohne Pau­se rund um die Uhr gehen, auch mal meh­re­re Tage.
Wenn alles schief­läuft und dazu ein geplan­ter Ent­las­tungs- oder Kli­nik­auf­ent­halt aus­fällt, erscheint tage­lang kei­ne Pfle­ge­fach­kraft. Dann bist du als Mut­ter oder Vater bei jedem Piep­sen der Gerä­te, bei jedem epi­lep­ti­schen Anfall, bei jedem Schmerz gefor­dert.
Die gefor­der­te Rund-um-die-Uhr-Über­wa­chung des Kin­des lässt dich stän­dig unter Strom ste­hen, ein Dau­er­stand­by, kein Entspannen.

Fazit, das ich hasse

Ich stim­me dir zu: Hass ist eine schwe­re „Geschich­te“. Ist es über­haupt ein Gefühl, eine Emo­ti­on? Genau weiß ich es nicht, denn es bün­delt ande­re direk­te Gefüh­le wie Ekel und Ableh­nung. Manch­mal ver­quickt es sich mit Wut. Viel­leicht hät­te ich es hier als Wut betrach­ten sol­len. Es macht einen wütend und trau­rig, wie aktu­ell die Pfle­ge­land­schaft auf­ge­stellt ist.
Bist Du auch mit der Pfle­ge ver­quickt, pro­fes­sio­nell oder als Ange­hö­ri­ger? Wie geht es Dir?

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by dirkstr

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