Verantwortung in Schuld

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Sie zu tra­gen, sie auf uns zu neh­men. Dem Rich­ter, dem Klä­ger unse­re Ver­ant­wort­lich­keit in unse­rem Tun und Han­deln erklä­ren. Schuld, ich zitie­re aus Duden, Deut­sches Uni­ver­sal Wör­ter­buch S. 1357:

“Schuld … 2. (o. Pl.) bestimm­tes Ver­hal­ten, bestimm­te Tat, womit jmd. gegen Wer­te, Nor­men ver­stößt; began­ge­nes Unrecht, sitt­li­ches Ver­sa­gen, straf­ba­re Verfehlung …”

Es gibt Tage, da wird man sie nie von sich wei­sen kön­nen. Die Schuld und ihre Fra­ge nach dem War­um. Ich sehe auf die Bil­der ermor­de­ter Men­schen, die Pho­tos von getö­te­ten Kin­dern, nack­ten Frau­en mit ver­hun­ger­tem Leib, bloß­ge­stellt und ohne einen Schim­mer von Wür­de. Wie weit liegt dies in mei­ner Ver­ant­wor­tung. Tra­ge ich die Schuld, die mei­ne Vor­fah­ren, mei­ne Mit­men­schen sich auf­ge­bür­det haben. Ich sage ja, ich tra­ge die Ver­ant­wor­tung als Mensch, dass jeg­li­ches Leid gegen­über ande­ren Men­schen, Lebe­we­sen abge­wen­det wird. Denn so stellt sich mir die Fra­ge: Wenn der Mensch sich nicht für das Leben ein­setzt, ist sein Leben dann nicht verwirkt?ie Geburt unse­res Kin­des stand an und der Weg mit dem Auto ging in eine ande­re Stadt. Mit dem Weg durch das Was­ser ent­deck­te mei­ne Toch­ter die Welt. Doch dann begann ihr Weg eine ande­re Rich­tung, ihre Rich­tung. Etwas stimm­te nicht, das war nach kur­zer Zeit klar und über die Zeit kris­tal­li­sier­te sich eine beschrei­ben­de Dia­gno­se her­aus, die hieß Behin­de­rung. Für uns Ver­ant­wor­tung und Schuld.

Uns wur­de ein­mal die Schuld zuge­wie­sen, indi­rekt: Was­ser­ge­burt — ihr schlech­ter Lebens­start kön­ne von dort kom­men? Indi­rekt, weil über den Weg der Fra­ge; und dann folg­te immer wie­der die glei­che Fra­ge: War die Schwan­ger­schaft nor­mal? Und manch­mal etwas direk­ter: das Beob­acht­ba­re an dem jun­gen Men­schen könn­te auch von einen Dro­genab­usus in der Schwan­ger­schaft kom­men. Ein Geschmack auf der Zun­ge haf­tet sich an: Trä­nen, die nicht nach außen kom­men dür­fen. Trä­nen, die der fra­gen­den Gemein­schaft nicht die rich­ti­ge Ant­wort geben wür­de. Denn so spricht eine jede sol­che Fra­ge davon, eine Schuld zu for­mu­lie­ren, dass ein Leben nicht die Norm der 97% von allen hat.

Ver­ant­wor­tung soll damit klar defi­niert wer­den: Der Schul­di­ge hat die Ver­ant­wor­tung zu tra­gen zu 100%. Wür­de man das Leben akzep­tie­ren, wie es ist, heißt, dass es einem Cha­os unter­liegt. Cha­os, aus des­sen es her­vor­ge­gan­gen ist, heißt, dass die Muta­ti­on, das nicht-Wachs­tum, das Wuchern eines Tumors zum Leben gehört, womit man allem Leben gegen­über in Ver­ant­wor­tung steht. Doch für das Leben, für das du die Schuld über­nimmst, trägst du 100%. Die gan­ze Ver­ant­wor­tung, die gan­ze Schuld. Wir haben uns ent­schie­den, das Leben unse­rer Toch­ter anzu­neh­men. Doch, so wis­sen wir, ist die­ser Wil­le schon vor­her gebo­ren wor­den. Er wur­de gezeugt mit dem Augen­blick, dass ein Kind von uns in unser Leben tre­ten darf.

Ich hör­te von einer Mut­ter mit behin­der­tem Kind, dass sie sich bewusst dafür ent­schie­den hat, dass sie ihr Kind annimmt. Ich ver­such­te zu ver­ste­hen und frag­te, was dies hie­ße. Sie erklär­te, dass sie über die Behin­de­rung wuss­te, bevor der neue Mensch gebo­ren war. Abtrei­ben, wozu man ihr riet, ver­nein­te sie. Wenig spä­ter füg­te sie an das Gesag­te an: Jetzt habe sie das Gefühl, dass die Leu­te, die ihr die Abtrei­bung vor­schlu­gen, ihr das Gefühl geben, selbst Schuld an ihrem jet­zi­gen “schwe­ren” Dasein zu sein. Sie sei Schuld und müs­se die Ver­ant­wor­tung tra­gen, dass sie nicht nur 24 Stun­den in 7 Tagen der Woche für Kind da sein muss, son­dern sie muss es pfle­gen wie ein Pro­fi und das Leid des Kin­des mit tra­gen ohne eine Schul­ter zum anleh­nen beim Ver­schnau­fen, ohne ein Dank oder Lächeln. Schuld sei sie und müs­se die Ver­ant­wor­tung tra­gen, dass sie Bar­rie­ren über­win­den muss, damit sie dem Kind eine Teil­nah­me am gesell­schaft­li­chen Leben schaf­fen kann. Sie muss Bar­rie­ren besei­ti­gen, um an die nöti­ge För­de­rung zu kom­men und dass sie selbst als Mut­ter wirt­schaft­lich sowie gesund­heit­lich kei­nen Scha­den erhält.

Ich stel­le die Fra­ge vom Schuld­frei­spruch. Also die Befrei­ung von der Ver­ant­wor­tung gegen­über einem ande­rem Objekt, Mensch, Lebe­we­sen. Was brau­che ich, damit ich von der Ver­ant­wor­tung für einen behin­der­ten, kran­ken, alten Men­schen frei gespro­chen wer­de. Die­se Gesell­schaft bie­tet eine Mög­lich­keit: das Heim oder auch häu­fig das Kran­ken­haus. Es klingt unkom­pli­ziert und hat den Bei­geschack, dass es sogar akzep­tiert sei von der Gesell­schaft. Schließ­lich kön­ne man ja sei­ne Lebens­ge­stal­tung nicht opfern für ein ande­res. Letz­tens erzähl­te mir eine Kin­der­kran­ken­pfle­ge­rin, dass es Eltern gibt, die ihr Kind zu Syl­ves­ter in die Kli­nik ste­cken, damit sie unge­stört fei­ern können.

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by dirkstr

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