Mein geliebter Nachbar

Ja, mein Lieblingsnach­bar, er hat nicht mehr ein Jahr und dann begin­nt sein Neun­zig­stes. Haben Sie, liebe Leser, auch einen solchen Her­rn oder Dame? Sie fra­gen eher, wie ich dazu gekom­men bin. Nun, er klin­gelte, war etwas erschöpft und trug eine Unruhe mit sich herum, er meinte, der Fernse­her gin­ge nicht, seine Betreuerin wäre weg und ob ich das nicht repari­eren könnte.

Im gle­ichen Hau­sein­gang wohnt er nicht, auch nicht im gle­ichen Block und doch ließ ich mich in diese, eine neue, Beziehung ein­fach reinziehen. Ob es meine Unfähigkeit war, ein­fach Nein zu sagen, wusste ich nicht, oder ob es das Wis­sen war: Es war Sam­stag und so kon­nte er bei der Hausver­wal­terin nie­man­den antr­e­f­fen, und dass eben für viele alte Men­schen das Fernse­hen mehr ist als nur ein Mit­tel gegen die Langeweile. Sicher­lich, er wollte zu der Woh­nung neben uns. Darum war ich über diese Anfrage nicht erstaunt, denn es klin­gelte öfters mal bei uns, wobei die Leute eigentlich zur Nach­bar­woh­nung woll­ten. Dies liegt, schein­bar, an der Namen­sähn­lichkeit der Hausver­wal­terin mit uns. Die beste­ht, man staune, aber nur in der Aussprache, mit der Fär­bung des Dialek­ts in Jena, gekop­pelt an einem schlecht­en Hörver­mö­gen im Alter. Denn dann klingt der Name der Lei­t­erin der Hausver­wal­tung eben wie unser­er, oder ver­hakt sich zumin­d­est so im Kopf.

Nun aber zurück zu meinem Lieblingsnach­bar aus dem betreuten Wohnen. Ich fol­gte also seinem Anliegen und er hat­te schon so seine Prob­leme mir zu fol­gen, von dem was ich erk­lärte oder wollte, auch wenn ich langsam redete. Zum einen lag es wohl auch an seinem Hörver­mö­gen, oder sollte ich eher vom Hörver­ständ­nis reden? Nichts desto trotz, der Fernse­her hat­te keinen Emp­fang, wie auch, der Kabelan­schluss war nicht geschal­tet. Also stellte ich ihm aus unserem Hard­ware­pool eine nicht genutzte Zim­mer­an­tenne hin, wom­it er zumin­d­est Bild und Ton von den öffentlich-rechtlichen Kanälen hat­te, wenn auch etwas ver­rauscht. Doch der Emp­fang in Jena ist an manchen Eck­en eben Glück­sache und wenn dann noch dicke Beton­wände sich zwis­chen Sendean­lage und Fernse­her stellen; die sollen für einen guten Emp­fang ja auch nicht ger­ade förder­lich sein.

Die Zim­mer­an­tenne war instal­liert, der Fernse­her halb­wegs ein­gerichtet und die Sonne stach ins Zim­mer, jagte die Tem­per­atur nach oben. Ich wies ihn darauf hin, gut zu trinken und schaute nach dem Tele­fon. Auf der Kom­mode stand ein Trag­bares, ohne Net­zteil, also ohne Funk­tion. Wo dieses Ding für den Strom sei, das wusste er nichts. In den ganzen Sachen, meinte er und wies auf Kisten hin; da hätte er keinen Überblick.

Also ging es zurück zu unseren Hard­ware­pool, ein altes Tele­fon gesucht, ana­log, ohne Funk und Strombe­darf, ver­ste­ht sich. Ich schloss es an die Dose und es herrschte Stille. Ein alter Mann, allein in der Woh­nung, muss, so sich­er amtlich fest­gestellt, betreut wer­den, ist aber ohne Tele­fon. Nun gut, er hat seinen Hund, der ihm zur Mobil­ität ver­hil­ft, aber was ist, wenn das Herz nicht mehr will, die Luft knapp wird. Ich war erstaunt darüber und wusste nicht, ob der fehlende Tele­fo­nan­schluss nun Fahrläs­sigkeit sei von der Betreuerin oder nicht. Ich ging und meinte wieder­holt, er solle gut trinken.

Über das Woch­enende noch traf ich ihn regelmäßig draußen. Er führte seinen Hund aus und wirk­te immer noch so, als hätte er eine Unruh ver­schluckt, die in ihm arbeit­ete, dabei tauchte in mir immer die Frage auf, ob diese Unruh nun gegen ihn wirk­te, in seinem Dasein das Ende suchte oder ob sie ihm erst das Leben ermögliche. Zulet­zt traf ich ihn auf dem Weg zur Straßen­bahn am Dien­stag, das Kind jagte mal wieder die Epilep­sie, das Wet­ter war warm und doch drück­te es auf einem. Danach sah ich ihn nicht mehr, wir mussten kurz in die Klinik, weil die Epilep­sie Epilep­sie sein wollte in ihrer gesamten Bre­ite ohne Pause und dann mussten wir erst­mal wieder den All­t­ag ordnen.

Ende der Woche traf ich ihn dann wieder. Dies­mal wollte er wirk­lich zur Hausver­wal­terin. Er brauchte den Schlüs­sel für seine Woh­nung. Ich fragte ihn, wie geht es. Es gin­ge ihm nicht gut. Er käme ger­ade aus der Klinik, drei Tage lag er dort. Das Wet­ter, so klick­te es gle­ich in meinen Kopf. Die Hausver­wal­terin kam und sie gin­gen fort. Seine Unruhe, die hat­te er immer noch dabei und die sprang plöt­zlich auf den Wohn­weg vor unser­er Ter­rasse über. Ein Ret­tungswa­gen wurde mit erregter Hand­be­we­gung aufs Gelände geleit­et, ein paar Minuten später war es dann der Notarzt. Meinen geliebten Nach­bar, haben sie ihn zu früh ent­lassen? Ich kon­nte nichts erken­nen. Es dauerte etwas länger und dann fuhren sie wieder; wen sie oder ob sie über­haupt jeman­den mitgenom­men haben, das wusste ich nichts. Eine Ahnung, dass er es sei, die bleibt bis heute beste­hen, denn ich habe ihn seit­dem nicht mehr angetroffen.

Tag: 
Sto­ry­Room
Nach­bar
Kat­e­gorie: 



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