Im gleichen Hauseingang wohnt er nicht, auch nicht im gleichen Block und doch ließ ich mich in diese, eine neue, Beziehung einfach reinziehen. Ob es meine Unfähigkeit war, einfach Nein zu sagen, wusste ich nicht, oder ob es das Wissen war: Es war Samstag und so konnte er bei der Hausverwalterin niemanden antreffen, und dass eben für viele alte Menschen das Fernsehen mehr ist als nur ein Mittel gegen die Langeweile. Sicherlich, er wollte zu der Wohnung neben uns. Darum war ich über diese Anfrage nicht erstaunt, denn es klingelte öfters mal bei uns, wobei die Leute eigentlich zur Nachbarwohnung wollten. Dies liegt, scheinbar, an der Namensähnlichkeit der Hausverwalterin mit uns. Die besteht, man staune, aber nur in der Aussprache, mit der Färbung des Dialekts in Jena, gekoppelt an einem schlechten Hörvermögen im Alter. Denn dann klingt der Name der Leiterin der Hausverwaltung eben wie unserer, oder verhakt sich zumindest so im Kopf.
Nun aber zurück zu meinem Lieblingsnachbar aus dem betreuten Wohnen. Ich folgte also seinem Anliegen und er hatte schon so seine Probleme mir zu folgen, von dem was ich erklärte oder wollte, auch wenn ich langsam redete. Zum einen lag es wohl auch an seinem Hörvermögen, oder sollte ich eher vom Hörverständnis reden? Nichts desto trotz, der Fernseher hatte keinen Empfang, wie auch, der Kabelanschluss war nicht geschaltet. Also stellte ich ihm aus unserem Hardwarepool eine nicht genutzte Zimmerantenne hin, womit er zumindest Bild und Ton von den öffentlich-rechtlichen Kanälen hatte, wenn auch etwas verrauscht. Doch der Empfang in Jena ist an manchen Ecken eben Glücksache und wenn dann noch dicke Betonwände sich zwischen Sendeanlage und Fernseher stellen; die sollen für einen guten Empfang ja auch nicht gerade förderlich sein.
Die Zimmerantenne war installiert, der Fernseher halbwegs eingerichtet und die Sonne stach ins Zimmer, jagte die Temperatur nach oben. Ich wies ihn darauf hin, gut zu trinken und schaute nach dem Telefon. Auf der Kommode stand ein Tragbares, ohne Netzteil, also ohne Funktion. Wo dieses Ding für den Strom sei, das wusste er nichts. In den ganzen Sachen, meinte er und wies auf Kisten hin; da hätte er keinen Überblick.
Also ging es zurück zu unseren Hardwarepool, ein altes Telefon gesucht, analog, ohne Funk und Strombedarf, versteht sich. Ich schloss es an die Dose und es herrschte Stille. Ein alter Mann, allein in der Wohnung, muss, so sicher amtlich festgestellt, betreut werden, ist aber ohne Telefon. Nun gut, er hat seinen Hund, der ihm zur Mobilität verhilft, aber was ist, wenn das Herz nicht mehr will, die Luft knapp wird. Ich war erstaunt darüber und wusste nicht, ob der fehlende Telefonanschluss nun Fahrlässigkeit sei von der Betreuerin oder nicht. Ich ging und meinte wiederholt, er solle gut trinken.
Über das Wochenende noch traf ich ihn regelmäßig draußen. Er führte seinen Hund aus und wirkte immer noch so, als hätte er eine Unruh verschluckt, die in ihm arbeitete, dabei tauchte in mir immer die Frage auf, ob diese Unruh nun gegen ihn wirkte, in seinem Dasein das Ende suchte oder ob sie ihm erst das Leben ermögliche. Zuletzt traf ich ihn auf dem Weg zur Straßenbahn am Dienstag, das Kind jagte mal wieder die Epilepsie, das Wetter war warm und doch drückte es auf einem. Danach sah ich ihn nicht mehr, wir mussten kurz in die Klinik, weil die Epilepsie Epilepsie sein wollte in ihrer gesamten Breite ohne Pause und dann mussten wir erstmal wieder den Alltag ordnen.
Ende der Woche traf ich ihn dann wieder. Diesmal wollte er wirklich zur Hausverwalterin. Er brauchte den Schlüssel für seine Wohnung. Ich fragte ihn, wie geht es. Es ginge ihm nicht gut. Er käme gerade aus der Klinik, drei Tage lag er dort. Das Wetter, so klickte es gleich in meinen Kopf. Die Hausverwalterin kam und sie gingen fort. Seine Unruhe, die hatte er immer noch dabei und die sprang plötzlich auf den Wohnweg vor unserer Terrasse über. Ein Rettungswagen wurde mit erregter Handbewegung aufs Gelände geleitet, ein paar Minuten später war es dann der Notarzt. Meinen geliebten Nachbar, haben sie ihn zu früh entlassen? Ich konnte nichts erkennen. Es dauerte etwas länger und dann fuhren sie wieder; wen sie oder ob sie überhaupt jemanden mitgenommen haben, das wusste ich nichts. Eine Ahnung, dass er es sei, die bleibt bis heute bestehen, denn ich habe ihn seitdem nicht mehr angetroffen.