Es geschah an einem Tag als es morgens zum Arzt gehen sollte, ein Termin beim Orthopäden. Aber da sie auf dem Land leben, bedeutet jeder Arztbesuch, selbst der Weg zur Therapie, eine längere Fahrstrecke. Das Auto wurde dafür morgens umgerüstet zum Intensivtransport. Pulsoxi, Beatmungsmaschine, Sauerstoff, Buggy, alles musste mit, alles musste rein. Da der Junge, ich glaub Kevin heißt er, auch an dem Tag keine Lust hatte sich mit dem Thema Essen auseinander zu setzen, was in letzter häufiger vorgekommen sei, hatten sie ihm in der Frühe eine Magensonde gelegt. Anfangs war er nicht begeistert. Aber wer ist das schon, wenn man ein Schlauch durch die Nase bis in den Magen geschoben bekommt. Doch als dann die Nahrung in seinem Bauch ankam und der Hunger sich langsam wendete zum Satt, stieg seine Stimmung wieder zum Lächeln und die Klarheit siegte: Die Reise kann losgehen.
Der Bub wurde in den Rehasitz gehoben, festgeschnallt ohne Bewegungsfreiheit bis auf Kopf, Arme und Beine. Die Beatmungsmaschine stand vor ihm, Absaugung, Sauerstoff, Pulsoxi daneben und nicht vergessen, die Nahrungspumpe hing am Vordersitz. Die Schwester setzte sich neben ihn, nicht direkt, der mittlere Sitz zwischen ihnen blieb frei. Soviel Nähe, und das bei unterschiedlichen Schwestern, wollte die Mutter ihrem Kind doch nicht zumuten. Als dann in der hinteren Reihe alles okay war, setzte sich die Mutter hinters Lenkrad und startete den Wagen. Eine Stunde Fahrt sollte es werden. Doch schon nach ein paar Kilometer verlangsamte sich diese. Das Pflaster, was die Magensonde an der Nase festhielt, löste sich langsam von der Haut. Die Mutter schaute in den Rückspiegel und sah die Schwester heftig mit den Armen herum wuchteln, was sie vorne überhaupt nicht verstand. Sie versuchte die Frau zu beruhigen, schließlich, falls den Jungen die Sonde rausrutscht, da gibt es zwar eine kleine Sauerei, doch stirbt nicht gleich das Kind daran. Die Schwester entgegnete ihr aber, sie hätten keinen Ersatz mit. Wie? Die Mutter verstand nichts. Na, keine weitere Nasensonde, meinte die Schwester mit zittriger Stimme. Bloß nicht aufregen, bloß nicht, meinte die Mutter zu sich und erklärte der Schwester, was zu tun sei, also das Pflaster fest auf die Haut drücken. Denn anhalten, um das Problem fachgerecht zu lösen, also die Sonde mit einem neuen Pflaster zu befestigen, ging nicht. Die Strecke ist zu kurvenreich, so dass die Mutter Angst hatte, wenn sie stehen bleiben, sitzt ihr gleich ein anderes Auto hinten drauf. Nach einer kurzen Zeit war die Sonde fixiert, was sich aber nicht so einfach gestaltete. Das lag nicht an der Fingerfertigkeit der Schwester, sondern am Sitzgurt, der saß zu fest, wodurch sie kaum an den Jungen heran kam. Sie musste sich umständlich mit dem Oberkörper zu ihm drehen, durch den Gurt durch. Als die Mutter dies sah, dachte sie nur, zum Glück muss er nicht abgesaugt werden. Nachdem sich das Auto dann zwischen den LKWs auf der Autobahn rein geschoben hatte, breitete sich wieder Ruhe aus. Die Schwestern lehnte sich mit einem Seufzer zurück und die Mutter sah, wie sich der Schweiß unter ihren Achseln ins T‑Shirt fraß. Doch als sie selbst ihre innere Spannung lockern wollte, sich im Fahrersitz bequem zurecht schob, löste sich das Pflaster erneut. Wieder gestikulierte die Schwester wild. Die Mutter erklärte ihr nochmals, dass sie probieren solle, das Pflaster zu kleben. Die Schwester stöhnte, drehte sich zum Kind und schrie plötzlich laut los. Die Mutter legte darauf eine Vollbremsung auf den Standstreifen hin, in der Angst, mit Kevin sei was. Es roch noch gebrannten Gummi. Sie drehte sich hinter zu den beiden. Mit dem Jungen war alles okay, er lachte, daneben die Schwester, sie röchelte. Ihr Oberkörper war in sich verdreht. Den Kopf, das Gesicht hatte sie halb in die Rücklehne gedrückt. ihr Sitzgurt hatte sich zu einem Strick gerollt und wanderte einmal um den Hals. Die Schwester röchelte auch weiter mit hochroten Kopf, als die Mutter den Gurt, die Enge, vorsichtig am Hals lockerte und abnahm. Vorsichtig, schließlich, eine Leiche, das hätte noch gefehlt, dachte sie. Nach der Befreiung jammerte die Schwester, plötzlich hätte es Knack gemacht, im Rücken gestochen und seit dem könne sie sich nicht mehr bewegen. Die Mutter verstand überhaupt nichts. Sie fahren zwar zum Orthopäden, aber mit welchem der beiden, das war hier jetzt die Frage. Die Weiterfahrt mit der Schwester, die war vorbei und den Termin beim Arzt für Kevin kann sie vergessen. Einen Rettungswagen bräuchte sie, meinte die Schwester und blieb in ihrer verdrehten Position sitzen. Der Mutter schaute ratlos auf sie und forderte die Rettung an, die wenig später eintraf mit der Polizei. Die Schwester, welche beim umlagern auf die Liege noch mal aufschrie, nahmen sie mit. Und wie käme sie jetzt nach Hause?, fragte sie die beiden Polizisten. Doch diese verstanden erst nichts. Sie machte dann denen klar, wie schnell man bei Kevin eingreifen muss, wenn die Beatmung rumzickt oder wenn er hustet. Sie kann ihn nicht alleine nach hause fahren. Die beiden Beamten schauten sich an, blickten auf die Uhr und sicherten der Mutter für die Heimfahrt einen Chauffeur in Polizeiuniform, damit sie sich um Kevin kümmern kann.
Und das Ende, meinte sie, war ein neuer Satz Reifen für eine gelöste Blockierung bei der Schwester, denn mehr war es nicht. Sie hätte sich so gut gedreht, meinte der Chirurg, dass es mal richtig gekracht hätte zwischen den Wirbeln. Das kann schon mal zwicken. Aber wie sie sich den Gurt dabei einmal um den Hals gewickelt bekam, blieb allen ein Rätsel. Und die Sonde, fragte ich sie. Sie hielt bis zum Abend.